In Wirklichkeit sind es dumme Blechbüchsen

Chris Boos, CEO Arago

Herr Boos, was ist für Sie künstliche Intelligenz – und wie würden Sie sie beschreiben?

Grundsätzlich ist es ein schlechter Begriff. Was ist schon Intelligenz? Kann eine Maschine intelligent sein? Der Begriff wirft viele Fragen auf. Außerdem sind wir uns in der Szene einig: Es heißt nur künstliche Intelligenz, solange es nicht funktioniert. Abgesehen von dem Begriff ist künstliche Intelligenz für mich jedoch eine Maschine, die von sich aus Probleme lösen kann. 

Die Entwicklung von künstlich Intelligenten Systemen in den letzten zehn Jahren war rasant. Sie arbeiten mit Ihrem Unternehmen Arago seit 1995 daran. Wie ist die Entwicklung aus Ihrer Sicht einzuordnen? 

Als wir 1995 angefangen haben, war gerade KI-Winter. Das heißt, dass die Ideen alle schon da waren, die damalige Technik eine Umsetzung aber nicht zuließ. Gerade jetzt in den letzten zehn Jahren konnten wir eine riesige Entwicklung in der KI machen. Erstens, weil sehr viel kommerziell geforscht wurde. Zweitens, weil viel mehr Rechenpower verfügbar wurde, sodass Algorithmen, die es schon in den 70er Jahren gegeben hatte, nun berechen- und anwendbar wurden. Es gab also die Entwicklung von einzelnen, kleinen Problemlösungen hin zu einer horizontalen Technik, die das Wirtschaftssystem umgekrempelt hat. Es ist mittlerweile so wichtig, dass sich nationale Strategien um KI drehen.

Es heißt, künstliche Intelligenz werde unsere Welt grundsätzlich verändern – so wie einst die Elektrizität alles auf den Kopf gestellt hat.

Ja, KI wird unsere Welt und unser System verändern. Sie bedeutet das Ende des Industriezeitalters. Im Industriezeitalter sind wir darauf angewiesen, eine gewünschte Lösung zu finden. Dann versuchen wir, sie zusammen zu standardisieren, machen Marketing, damit die Leute in etwa das kriegen, was sie haben wollen – oder dass sie haben wollen, was sie zu brauchen glauben. Dann bauen wir Fabriken und Prozesse sehr teuer, weil wir wissen, dass wir viel von dem Zeug verkaufen können. Bei KI brauchen wir diesen Skaleneffekt nicht mehr. Wir sagen der Maschine, was wir haben wollen und sie macht es immer Losgröße 1, also auch in Einzelanfertigung, immer zum günstigen Preis. Das heißt, dass der Skaleneffekt so nicht mehr relevant sein wird. Und das ändert die wirtschaftlichen Spielregeln komplett. 

KI krempelt unser Wirtschaftssystem um – und wie wird sich KI selbst in den nächsten Jahrzehnten entwickeln?

Das ist sehr schwer zu sagen. Was man allerdings sagen kann ist, dass wir, wenn wir die heutigen Techniken anwenden, einen großen Teil unserer prozessualen Tätigkeiten ersetzen können. Das hat einen riesigen Hebel.

Haben Sie dafür ein Beispiel?

Die Effizienz des autonomen Fahrens. Das bringt uns wahrscheinlich eine Verfünfzehnfachung des Nutzens von Fahrzeugen. Es ist umweltfreundlicher, schneller und man kann während der Fahrt schlafen und arbeiten. Unter dem Aspekt, dass ein Drittel der Volkswirtschaft aus Logistik besteht, ist das enorm.

Die Entwicklung vollzieht sich momentan so rasant, dass viele Menschen Angst haben, wir könnten bald von einer allgegenwärtigen Superintelligenz kontrolliert werden. Auch Professoren renommierter US-amerikanischer Universitäten und selbst Visionäre wie Elon Musk warnen vor der Gefahr dieser Kontrolle.

Ich finde diese Sorgen vollständig abstrus. Ich würde nicht sagen, dass es sowas nie geben wird, aber alles, was in diese Richtung geht, ist mit Sicherheit 150 Jahre weg. Von daher sollte man sich eher darum kümmern, in dem sich verändernden Wirtschaftssystem klarzukommen. Natürlich können Maschinen uns übertreffen, das tun sie auch schon in vielen Bereichen. Das genau war ja immer das Ziel von Maschinen. Keiner möchte heute von Beruf Kran werden, die heben alles besser und leichter hoch als wir Menschen. Grundsätzlich hängt es von uns ab. Wir hätten uns auch schon vor Jahren mit der Atombombe vom Planeten blasen können. Das könnte man mit KI auch sehr effizient tun, muss man aber nicht. Bisher haben wir es ja auch geschafft, unsere Vernichtung selbst zu verhindern.

Die Bedrohung sitzt vielleicht da, wo sich der Rohstoff künstlicher Intelligenz befindet: Plattformen wie Facebook, Google, Amazon, Alibaba und Co. verfügen über Zugriff auf riesige Datenmengen. Wird die Monopolbildung ein großes Problem?

Diese Plattformen haben wir Menschen erfunden, weil wir es wollten. Keiner der Autoren der Dystopien „1984“, „Clockwork Orange“ und „Brave New World“ hätte sich vorstellen können, dass wir diese ganzen Techniken ohne einen Diktator implementieren und nutzen würden. Wir haben das für den Komfort getan – und jetzt sind wir wie der Zauberlehrling, der nicht weiß, wie er die Geister, die er rief, wieder loswerden soll. Wir sollten uns weniger mit den Plattformen beschäftigen, sondern mit den Dingen, die die Plattformen noch nicht besetzen. Noch eine Suchmaschine bauen ist schwierig.

Plattformen wie Amazon sind aus dem Konsumalltag nicht mehr wegzudenken. Die virtuellen Kauf-Assistenten, die wir kennen, agieren vermeintlich im Interesse der Kunden, dabei steht doch das Umsatzinteresse des Unternehmens dahinter. Muss das so sein?

Wir unterstellen den Assistenten immer, dass sie im Interesse von Firmen handeln würden. Momentan manipulieren wir im Interesse von Firmen, verdienen damit ein Schweinegeld und nennen das Werbung oder auch Influencer-Marketing. Durch Werbung wird man meiner Meinung nach viel stärker manipuliert und teilweise sogar übers Ohr gehauen. Im Geschäftsmodell der Assistenten verdient man das Geld nicht mit der Transaktion eines Menschen, sondern mit seinem Leben. Das Schlimmste wäre für einen Anbieter daher, wenn ein Kunde zu einem anderen Anbieter wechselt. Ich glaube, dass durch die Assistenzsysteme Menschen viel weniger anfällig sind für Marketing.

Dennoch – die Angst vor Überwachung ist groß, geschürt durch die vielen Berichte aus China, Stichwort Social Scoring. Müssen wir in Deutschland auch mit dieser Form von Kontrolle oder Überwachung rechnen?

Natürlich kann die Technik dafür genutzt werden. Ich mache mir schon sehr lange Gedanken darüber, welche Daten erfasst werden im Namen der Terrorismusbekämpfung, obwohl die Wahrscheinlichkeit, aufgrund eines Terrorakts zu sterben, sehr gering ist. Damit wird aber begründet, warum all unsere Daten erfasst und archiviert werden. KI hilft dabei, dass man dieses Archiv besser durchsuchen kann. Ob es wirklich was für unsere Sicherheit tut, glaube ich nicht. Es werden mit Sicherheit Modelle der totalen Überwachung möglich. Das Problem liegt aber nicht in der Technik, sondern in der Menschlichkeit. Das interessante an China ist ja, dass die Mehrheit der Menschen durch das komplett andere Gesellschaftssystem dieses Social Scoring gut findet. Ich wünsche mir, dass wir in Europa eine Gesellschaft bleiben, in der wir so etwas das Allerallerletzte finden. Das wäre eine Möglichkeit, um junge, fleißige und denkende Menschen anzuziehen.

Sollte man daher die Forschung an KI durch Gesetze einschränken?

Man kann mit KI Gutes und Schlechtes machen. So ist es mit Allem. Die Reaktion darauf ist oft die Regulierung der Forschung. Das hat aber zur Folge, dass die Forscher schlicht und einfach auswandern und woanders weitermachen. Die einzige Möglichkeit, seine Werte durchzusetzen ist doch aber, wenn man bei der Forschung weit vorne dabei ist. Viel schlauer ist es, den anderen zwei Schritte voraus zu sein. Daher finde ich den Ansatz, die Forschung runterzuregulieren völlig sinnlos, weil das ein Garant für eine Katastrophe ist. Denn wenn die wirtschaftlichen Verhältnisse sich verschieben, hat hier nicht mehr der Staat das Sagen.

Lassen Sie uns über den Menschen sprechen, der in der ganzen Diskussion um künstliche Intelligenz durchaus degradiert wird. Was kann der Mensch denn besser als jede Maschine?

Menschen sind die Einzigen, die einen Willen haben. Menschen replizieren nicht nur die Realität und die Vergangenheit, sondern sagen tatsächlich, dass sie etwas ändern wollen. Menschen haben einen künstlerischen Drang und schwimmen gegen den Strom. Sie tüfteln Sachen zusammen, die eigentlich nicht zusammen gehören. Menschen gehen auch Risiken ein. Das alles nennen wir Kreativität. Genau das ist es auch, was Menschen ernsthaft glücklich macht. Wenn man etwas erschafft, ist das nicht zu vergleichen mit einem Like auf einen Instagram-Post. Ich weiß nicht, ob es überhaupt möglich ist, jemals eine Maschine mit diesem eigenen Willen zu erschaffen. Wenn ja, wird das noch sehr lange dauern.

Würden Sie die Schritte von Alpha Go gegen den besten Go-Spieler der Welt also nicht als kreativ bezeichnen?

Nein. Eine Maschine kann auch einen Rembrandt zeichnen. Das heißt aber nicht, dass Sie Kubismus einführen kann. Beim Go-Spiel haben viele die Schritte der Maschine als kreativ bezeichnet, weil sie überraschend waren. Die Maschine hat jedoch einfach nur andere und mehr Muster gelernt, als ein Mensch sich merken kann. Das ist nicht kreativ, sondern konsistent. Also übertrifft uns die Maschine lediglich in stumpfen, eintönigen Sachen? Könnte man so sagen. Maschinen können total konsistent Röntgenbilder auswerten, machen das mit gleicher Qualität sieben Tage die Woche, 24 Stunden am Tag. Maschinen sind für den ganzen repetitiven Kram zuständig, für den wir Menschen nicht gemacht wurden. Das ist das Tolle an ihnen.

Dann sollten wir ja eigentlich froh sein, Maschinen zu haben. Was muss getan werden, damit Maschinen mit KI in Deutschland akzeptiert werden? 

Darüber zerbreche ich mir tagtäglich den Kopf. Mir ist völlig unklar, warum sie nicht akzeptiert werden. Ich glaube aber, es liegt daran, wie wir diese Maschinen erklärt haben. Indem wir sie für intelligent erklärt haben und suggerieren, dass sie funktionieren wie Gehirne, was sie in Wirklichkeit nicht tun, ist bei den Menschen ein Angstbild entstanden. In Wirklichkeit sind es weiterhin dumme Blechbüchsen, die uns Arbeiten abnehmen, die uns sowieso nicht glücklich machen. Wenn ich morgens Leute in ihre Büros stapfen sehe, beobachte ich selten glückliche Menschen.

Wie viele dieser eintönigen Prozesse können in Unternehmen von KI übernommen werden?

Da fragen Sie jetzt den Gläubigen. Meiner Meinung nach sollte man eigentlich alles automatisieren, was nicht zwischenmenschlich ist. Heutzutage möglich sind rund 80 Prozent. Das sage ich jetzt aber als Technik-Jünger. Laut World Economics Forum werden aktuell 29 Prozent der Arbeiten, die früher Menschen verrichtet haben, von Maschinen übernommen. Die Voraussage für 2025 sind 53 Prozent.

Werden dann nicht viele Menschen arbeitslos?

Das wird immer gesagt. Ich finde das aber zu 100 Prozent unlogisch, denn wenn wir alle arbeitslos würden, nachdem die Maschinen unsere heutige Arbeit übernommen haben, würde das bedeuten, dass wir heute bereits alles tun, was notwendig ist. Das kann nicht sein. Wir haben einen riesigen Innovationsstau, der Planet geht kaputt. Unsere Gesellschaft ist so weit dem Egoismus verfallen, dass wir inzwischen wieder Extremismus wählen können. Es gibt eine umgedrehte Alterspyramide, ein kaputtes Rentensystem. Es gibt so viele wichtige Sachen auf der Welt, die repariert und besser gemacht werden müssen. Daher finde ich diese Angst der Massen-Arbeitslosigkeit idiotisch.

Das hört sich utopisch an. Bei eigentlich allen Revolutionen gab es eine verlorene Generation, die es schwer hatte, bevor die Erneuerung Früchte trug. Wird es das bei KI denn garnicht geben?

Das stimmt. Normalerweise ist der Übergang bei so etwas sehr schmerzhaft. Sonst war es immer so, dass die Innovation kam, weswegen dann Arbeitsplätze gekürzt wurden. Das verdiente Geld wurde gespart und erst über lange Zeit wieder investiert. Jetzt ist es aber so, dass die Plattformen einen so riesigen Vorsprung haben, dass man direkt reinvestieren muss, um den Anschluss nicht zu verlieren. So entstehen neue Arbeitsplätze und die Transition könnte ohne Weltwirtschaftskrise oder Ähnlichem geschehen. Das ist eine noch nie da gewesene Chance. 

Wie könnte eine neue Arbeit aussehen für einen 45-jährigen Buchhalter, der sein Leben lang nichts anderes gemacht hat und seinen ursprünglichen Job verliert? 

Mich wundert, warum sie nicht den Taxi- oder Lastwagenfahrer als Beispiel genommen haben. Also erstens stellt sich die Frage, ob er diesen Job gerne gemacht hat. Zweitens könnte er beispielsweise die Maschinen trainieren. Sicherlich wird es Jobs und auch ganze Industrien irgendwann nicht mehr geben. Der Steinkohlebergbau wurde erst jetzt abgeschafft, obwohl vor 40 Jahren schon klar war, dass es komplett unwirtschaftlich ist, ihn durch Subventionen zu fördern. Es wurden sogar Leute ausgebildet, die keine Perspektive hatten. Diese Industrien sollte man nicht krampfhaft am Leben halten, sondern lediglich eine Generation bis zur Rente finanzieren. Als Beschäftigung könnten die letzten ihres Fachs Wissen anhäufen und den Maschinen einspeisen. Wer weiß, wann und wo man diese Kompetenzen noch gebrauchen kann.

Wenn Arbeitsplätze verloren gehen, müssen neue her. Welche Jobs wird es in der Zukunft geben?

Konkrete Berufsbilder kann niemand voraussagen. Vor 20 Jahren hätte sich auch niemand vorstellen können, dass Youtuber mal ein Beruf werden kann. Grundsätzlich muss bei den Berufen der Zukunft humanistischer gedacht werden. Es geht darum, was Menschen ausmachen und wie sie damit die Gesellschaft weiterbringen können.

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